Der Turm
Wenn dieses Gebäude heute etwas isoliert am Rande der Häusergruppe um den Dorfplatz steht, so wird es durch unser Bild auf sehr kunstvolle Weise in jenen Lebensraum integriert, der ihm eigentlich zukommt. Er jetzt sehen wir deutlich, dass alles, was um den Turm herum gebaut wurde, einer späteren Zeit angehört. Er war Zeuge der ersten Tage der jungen Eidgenossenschaft, der Kriegszüge, der erbeuteten Banner. Er überstand mit knapper Not den Dorfbrand von 1642. In seiner unmittelbaren Nähe sank das Rathaus in Staub und Asche und residierte im "Grosshus" die Päpstliche Nuntiatur. In den Urkunden, die er beherbergte, spiegelten sich nicht nur die Leiden und Freuden des Kantons, sondern auch die Stilepochen wechselten in seiner unmittelbaren Nähe ab. Spuren von Romantik, Gotik, Renaissance finden sich in seiner unmittelbaren Nähe, bis hin zum formvollendeten Barock der Schwyzer Pfarrkirche. Dazwischen legt sich als kühne und grosszügige Leistung der Dorfplanung der Hauptplatz. Vielleicht lässt sich von einem solchen Versteck aus das Leben intensiver und genauer beobachten. Es zwingt zur Auswahl, zur Begrenzung und auch zur Rücksichtnahme.
Der Turm in Schwyz ist so etwas wie ein Mass, an dem nachkommende Zeiten gemessen werden können. Als bedeutendes Gebäude, dem Kostbarstes anvertraut wurde, ist er in unseren Augen klein. Erst die Verbindung mit den anderen Kantonen, vor allem aber die Beziehungen mit dem Ausland brachten Weite, Auflockerung und so etwas wie Dimensionen in den Dorfkern. Das Rathaus mit seinem Platz, die breite Front des "Rössli", die Brunnen und als krönender Abschluss die Kirche sind eine Steigerung von alldem, was im Turm vor Jahrhunderten so klein, aber zielbewusst begonnen hat.
Alles, was Schwyz seinen ganz besonderen Charakter gegeben hat, steht in seiner unmittelbaren Nähe: Das Herrenhaus mit seiner gediegenen Wohnkultur, welche das Künstlerische mit dem Sinnvoll-Praktischen verbinden vermochte, Rathaus und Gericht, Kirche, in früheren Zeiten mehrere weit bekannte Gaststätten, Handwerk und Gewerbe und ein weiter Platz für den alltäglichen Verkehr wie für festlich aufziehende Prozessionen und fasnächtliche Japanesenspiele.
Hinter alldem steht der Turm, versteckt durch Gässchen, Häuser, Brunnen, Gärten, Bäume und Sträucher. Man muss ihn aufsuchen, so wie man ein vergangenes Jahrhundert erst suchen muss, um seine Strahlungskraft auf die Gegenwart verstehen zu können.
Die Entstehungszeit des Turmes ist nicht genau bekannt. Sie dürfte im 12. oder 13. Jahrhundert liegen, also vor der Gründung der Eidgenossenschaft. Ursprünglich hatte er einen quadratischen Grundriss von 8.5 auf 8.5 Meter. Erstaunlich ist seine Mauerdicke von 2.1 Meter im Erdgeschoss, aber auch noch im obersten Stockwerk hat sie das respektable Mass von 88 cm. Seine besondere Bedeutung erhielt der Turm aber erst im 16. Jahrhundert. Er jetzt beherbergte er die sogenannten "Landesfreiheiten" und erfüllte ab 1612 die Aufgaben einer "Landesmetzg". Diese holzgezimmerte Metzg und das Dach wurden ein Opfer des Dorfbrandes. Im Jahr 1666 - der Turm wurde nun Staatsarchiv - erfolgte an der Ostseite der Anbau eines Treppenhauses. Damit erhielt der Turm nun auch einen rechteckigen Grundriss. Das heutige Aussehen des Turmes ist wesentlich durch die Renovation in den Jahren 1774-1776 bestimmt. Anlass dazu bot die Initiative des Landessäckelmeisters Dettling. Bis zum Bau des neuen Bundesbriefarchivs an der Bahnhofstrasse wurden hier, wie bereits erwähnt, die kostbarsten Dokumente zur Geschichte der Eidgenossenschaft aufbewahrt: die Bundesbriefe von 1291 und 1315 und die der übrigen Orte der Alten Eidgenossenschaft, ferner die Goldene Bulle Sigmunds vom 11. Dezember 1434 (Quelle: "Bauwerke in Schwyz" von Joseph Bättig, Zeichnungen von Godi Leiser, 1975).